\Die Untersuchung des neurotischen Charakters ist ein wesentlicher Teil
der Neurosenpsychologie. Wie alle psychischen Erscheinungen ist er nur
im Zusammenhang mit dem ganzen seelischen Leben zu erfassen. Eine
flüchtige Kenntnis der Neurosen genügt, um das Besondere daran
herauszufinden. Und alle Autoren, die dem Problem der Nervosität
nachgegangen sind, haben mit besonderem Interesse gewisse Charakterzüge
ins Auge gefasst. Das Urteil war ein allgemeines, dass der Neurotiker
eine Reihe scharf hervortretender Charakterzüge bietet, die das Mass des
Normalen überschreiten. Die grosse Empfindlichkeit, die Reizbarkeit, die
reizbare Schwäche, die Suggestibilität, der Egoismus, der Hang zum
Phantastischen, die Entfremdung von der Wirklichkeit, aber auch
speziellere Züge, wie Herrschsucht, Bösartigkeit, opfervolle Güte,
kokettes Wesen, Feigheit und Ängstlichkeit, Zerstreutheit figurieren in
den meisten Krankengeschichten. Wo immer man mit der Analyse psychogener
Krankheitszustände einsetzt, drängt sich nach kürzester Beobachtung ein-
und dieselbe Erscheinung vor: dass das ganze Bild der Neurose ebenso wie
alle ihre Symptome von einem fingierten Endzweck aus beeinflusst, ja
entworfen sind. Dieser Endzweck hat also eine bildende, richtunggebende,
arrangierende Kraft.\ Der Verlag der Wissenschaften verlegt historische
Literatur bekannter und unbekannter wissenschaftlicher Autoren. Dem
interessierten Leser werden so teilweise längst nicht mehr verlegte
Werke wieder zugängig gemacht. Dieses Buch über den nervösen Charakter
stellt Grundzüge einer vergleichenden Individual-Psychologie und
Psychotherapie dar und ist ein unveränderter Nachdruck der
Originalausgabe von 1912.